Eine CO2-neutrale Gemeinde

Wie sieht eine Gemeinde im Jahr 2050 aus – in dem Jahr also, in dem die CO2-Emissionen laut Pariser Klimaabkommen weltweit netto null sein müssten? Diese Frage haben Forscher anhand der steirischen Gemeinde Seiersberg beantwortet - und ein Modell realisiert.

Es sei vorweggenommen: Wer sich ein Modell mit solarbetrieben Lufttaxis und Hoverboards erwartet, wird enttäuscht. Dennoch haben die Raumplaner, Studierenden und Architekten von der BOKU Wien, der TU Wien sowie der TU Graz das Bild einer Gemeinde ordentlich umgekrempelt, so der Leiter des Projekts, Johannes Fiedler.

Ausstellung

„Die Studenten wussten natürlich, dass sie nicht im luftleeren Raum planen können. Wir haben sie aber dazu ermutigt, visionär zu denken. Denn wenn wir schon auf der Ebene der Studierenden in der Alltagspragmatik von Gemeindestuben denken, werden wir diesen gewaltigen Innovationssprung niemals schaffen“, erklärt der Grazer Raumplaner und Architekt.

„Hier herrscht komplettes Chaos“

Konkret hatten die Nachwuchsplaner die Aufgabe, Seiersberg, eine Gemeinde südlich von Graz, umzugestalten und klimafreundlich zu machen. „Strukturell herrscht hier heute ein komplettes Chaos“, urteilt Fiedler: mehrspurige Autobahnen und Landstraßen, die kreuz und quer verlaufen, Siedlungen mit Einfamilienhäusern, Shoppingzentren, mehrgeschossige Wohnungsanlagen und großflächigen Gewerbeanlagen, die ebenfalls scheinbar willkürlich über das Gebiet verstreut liegen und durch das umfangreiche Straßennetz verbunden sind. „Letztlich sieht es hier so aus, wie in vielen Stadtteilen Europas“, sagt der Architekt und deutet auf einen Plan, der ein exakt zwei-mal-zwei Meilen (3,2 mal 3,2 Kilometer) großes, quadratisches Luftbild von Seiersberg zeigt.

Ausstellung: Modell von Seiersberg im Jahr 2050

fiedler.tornquist

Das Modell: Seiersberg im Jahr 2050

Das Format ist kein Zufall. Es ist eine Anlehnung an Frank Lloyd Wrights zwei-mal-zwei Meilen große „Broadacre City“, die der US-amerikanische Architekt 1935 entwarf. „Er hat eigentlich diese Stadt, wie wir sie hier heute im Süden von Graz vorfinden, propagiert. Er war davon überzeugt, dass in Zukunft alles mit dem Auto funktionieren wird und hat danach sein Stadtmodell ausgerichtet.“

Broadacre City 2.0

Klimafreundlich ist diese vom Kfz-Verkehr dominierte Struktur nicht. Sie verbraucht zu viel Energie und führt zu hohem CO2-Ausstoß, betont der Stadtplaner. Will man also den Klimawandel stoppen, muss man die Struktur solcher Gemeinden ändern, ist Fiedler überzeugt. Nur so würden die Bewohner letztlich auch ihr Verhalten ändern. „Allein durch Technologie und regulatorische Maßnahmen werden wir den notwendigen Wandel nicht bewältigen. Deshalb haben wir eine Broadacre City 2.0 gebaut.“ Das heißt, ein Seiersberg, das im Jahr 2050 emissionsneutral funktionieren könnte - so würde es jedenfalls das Klimaabkommen von Paris vorsehen.

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet auch „Wissen aktuell“, 13.9., 13.55 Uhr.

Erarbeitet wurde das klimafreundliche Stadtmodell an den Universitäten im Rahmen von Übungen, Diskussionsrunden, Master- und Gruppenarbeiten. Dabei scheuten sich die jungen Planer nicht, das Nutzen des Pkws wesentlich unbequemer zu machen. „Heute werden Autos in solchen Gebieten für bis zu 80 Prozent der Wege genutzt. Das muss sich künftig auf maximal 10 Prozent reduzieren“, erklärt der Verkehrsplaner Harald Frey von der TU Wien, der mit seinen Studenten am Projekt beteiligt war und sich u.a. Siedlungen mit Einfamilienhäusern widmete. „Hier ist das Problem, dass die Mobilität stark an das Auto geknüpft ist. Dadurch gibt es wenig öffentlichen Raum. Jeder hat seinen eigenen Parkplatz am eigenen Grundstück, steigt ins Auto und fährt damit zum Supermarkt oder in die Arbeit.“

Auch im Seiersberg von 2050 wird es durchaus noch vereinzelt (Elektro-)Autos geben. Sie werden aber zunehmend von den Hauseinfahrten auf gemeinschaftliche, zentrale Stellplätze an den Siedlungsrand verbannt – zu erreichen mit den Öffis, dem Rad oder zu Fuß. Zudem werden freigewordene Grundstücke von der Gemeinde aufgekauft und darauf niedrige, mehrgeschossige Wohnbauten, öffentliche Parks, Schwimmteiche oder ähnliches gebaut.

Energie sparen durch „Nachverdichten“

Auf diese Weise will man vor allem dem hohen Energieverbrauch in Einfamilienhaussiedlungen drosseln, erklärt der Verkehrsplaner. „Eine Gruppe hat sich dem Gebiet über den Begriff des ökologischen Fußabdrucks genähert und festgestellt, dass der Lebensstil in einer solchen Siedlung mit einem typischen amerikanischen Lebensstil vergleichbar ist. Würden alle so leben, bräuchte man dreimal so viele Erden“, erklärt Frey und betont, dass die Menschen hier künftig zusammenrücken müssen. „Nachverdichten“ nennt das die Fachwelt.

„Das ist natürlich ein langsamer Prozess, der jetzt eingeleitet werden muss, indem eine Gemeinde aufhört, das Falsche permanent zu wiederholen.“ Etwa, indem man die zunehmend Widmung von Baugrund am Rande solcher Gebiete stoppt und die Anzahl der vorgeschriebenen Autostellplätze bei Neubauten reduziert bzw. gestrichen werden, erläutert Frey näher.

Modell Seiersberg im Jahr 2050, Detailansicht mit Häusern, Bäumen und Bahntrassen

Sandra Püreschitz

Broadacre City 2.0, Detailansicht

Auch Autobahnen sind 2050 kleiner als heute. Aus drei Spuren pro Fahrtrichtung wird eine Spur plus Pannenstreifen. Die freigewordenen Fahrbahnen werden mit Solarpanelen, die übrig gebliebenen zwei Spuren mit Oberleitungen ausgestattet. „Auf der Straße fahren elektrische Lastkraftwagen und öffentliche Busse quasi im Konvoi, Autos sind beinah obsolet geworden. Der Bus hält dann an den ehemaligen Autobahnabfahrten“, erklärt Fiedler die Idee von Studierenden der BOKU Wien. Von dort fährt man dann mit dem Rad nach Hause oder in die Arbeit, oder steigt auf ein anderes öffentliches, modernes Verkehrsmittel um.

Indoor-Permakultur im Shoppingcenter

Das große Shoppingcenter Seiersberg an der heutigen A9 wird wiederum umfunktioniert und für landwirtschaftliche Produktion verwendet - genauer für eine Indoor-Permakultur, die ohne Sonne und Erde auskommt. Eingekauft wird stattdessen direkt am Rande von Seiersberg, wo sich rund um das bestehende Gemeindezentrum ein kleines, urbanes Gebiet entwickelt hat.

Zu sehen gibt es das Zukunftsmodell aktuell im ‚Kunsthaus Muerzzuschlag‘. „Man sieht auf dem Modell im Maßstab 1:1.000 wirklich detailgetreu alle Veränderungen in den einzelnen Gebieten. Dazu gibt es entsprechende Erläuterungen.“ Diese beschreiben zudem, welche Lösungen allgemeingültig sind und sich von Seiersberg auf andere Gemeinden übertragen ließen. Ebenfalls im Detail ausgestellt werden die einzelnen Ideen und Diskussionen der Studierenden, die in das Modell eingeflossen sind, das vor allem der Architekt Fiedler von fiedler.tornquist gebaut hat. Geht es nach ihm, soll es bei dem Modell nicht bleiben: „Wir werden die Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Publikation zusammenfassen und hoffen, dass hier auch die Politik Interesse zeigen wird.“

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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